Erfahrungen und Beispiele aus der Ergotherapie*
Stellen Sie sich vor, Sie werden durch ein gravierendes Ereignis (Unfall oder Krankheit) aus der Alltagsroutine gerissen und mit dem Verlust Ihrer gewohnten Handlungsfreiheit konfrontiert. Normale Verrichtungen wie Körperpflege, Ankleiden, Benutzen von Arbeitsgeräten, Kommunikations- oder Verkehrsmitteln werden regelmässig zum Misserfolg oder zum beschämenden Hindernislauf.
Je länger eine solche Aus-Zeit dauert, desto stärker gerät das eigene Wertgefühl ins Wanken, und bange Fragen tauchen auf: Kann ich meinen Alltag überhaupt wieder selber bewältigen? Oder werde ich langfristig auf fremde Hilfe angewiesen sein? Wer bin ich dann (noch?) am Arbeitsplatz, in der Familie, in der Gesellschaft?! Das Lachen kann einem schnell abhanden kommen, Lebensfreude erstarrt, Zukunftsangst macht sich breit.
Ergotherapie*, die zum Ziel hat – trotz vielfältigen Traumafolgen – baldmöglichst alle verfügbare Eigenaktivität beim Patienten zu mobilisieren, und bereits in der Klinik praktische Handlungsfelder – trotz Einschränkungen – (wieder) zu erproben, setzt beim gesunden Potential des Individuums an. Beim Aufbau eines alltagsrelevanten Trainingsprogramms wird sie – wo immer möglich – auch Spass und Heiterkeit als Kraftquelle nutzen und fürdern. Dies beginnt meist schon bei der ersten Kontaktaufnahme: Humor ist oft besser geeignet als tröstliche Worte, um Verkrampfungen zu lösen und die ehrfurchtsvolle, manchmal geradezu lähmende Distanz zu den „Experten in Weiss“ zu überbrücken.
Ich erinnere mich zum Beispiel an einen älteren Mann, der sehr eingeschüchtert zur ambulanten Hand-Sprechstunde kam und seine operierte Hand steif wie ein nicht zu ihm gehöriges „Ersatzteil“ auf den Untersuchungstisch „stellte“. Es ging darum, die Fäden zu entfernen und dann die Greiffunktion und Fingerbeweglichkeit zu testen. Arzt, Physio- und Ergotherapeutin diskutierten den möglichen Therapieplan, während der Patient stumm und gebannt alles über sich ergehen liess. Einer bestimmten Beobachtung und einer plötzlichen Laune folgend, liess ich mich dazu hinreissen, ihn mit ebenso unbewegter Miene zu fragen:“Und, – was sagt denn eigentlich ihr Wellensittich dazu, dass Sie ihn nur mit Mühe versorgen können?“ Das brachte Leben in die Szene. Er fuhr herum, starrte mich ungläubig an und stotterte: „… woher wissen Sie, dass ich einen Vogel habe?“ Es folgte Totenstille, – die ganze Runde war einen Moment lang völlig aus dem Konzept gebracht. Da ich aber unverwechselbare „Hinterlassenschaften“ eines Sittichs auf der Schulterpartie der Jacke des Mannes entdeckt hatte, war ich meiner Sache sicher und befragte ihn ungerührt weiter zu den Gewohnheiten seines Lieblings, worauf er sofort lebhaft und gesprächig reagierte. Der ganze Mensch wirkte wie verwandelt: vom schicksalsergebenen „Urteilsempfänger“ zum vergnügten und seinerseits kenntnisreichen Individualisten!
Nach der ersten Verblüffung brach nun auch bei der medizinischen Expertenrunde spontan allgemeine Erheiterung aus. Die Atmosphäre hatte sich grundlegend gewandelt: aus der gespannten Anonymität war ein lockeres gegenseitiges Wohlwollen entstanden. Auch bei den später folgenden anstrengenden Therapiesequenzen liess sich immer wieder beim Spass der ersten Stunde anknüpfen.
Humor befreit, kann Brücken schlagen – auch zwischen ungleichen Parteien – und kann in neckender Zuwendung ein partnerschaftliches Wir-Gefühl entstehen lassen. Dies ist für mich als Ergotherapeutin und Ausbildnerin von unschätzbarem Wert, denn der Kampf zur Wiedergewinnung oder Erweiterung von Fähigkeiten und Fertigkeiten in Ausbildung oder Rehabilitation verlangt viel Einsatz von allen Beteiligten. Ohne Humor kann ein ursprünglich gesunder Drang zur eigenen Optimierung leicht zu einem verbissenen und manchmal – ungewollt – zu einem gegenseitig frustrierenden, deprimierenden Leistungsdruck verkommen.
Handlungsfreiheit erarbeiten als Ziel von Lernsituationen überhaupt (und ganz besonders in der Rehabilitation!) gelingt viel leichter und besser mit der Würze eines positiven zugewandten Humors. Dieser erlaubt eine konstruktive Art der Konfrontation mit schmerzlichen Realitäten, federt Rückschläge und Versagensmomente ab und ermöglicht ein sich lösen von Scham über ein subjektiv deutlich erlebtes eigenes Unvermögen. Das kähne, normensprengende Flair eines passenden Witzes, das herausfordernde Wohlwollen einer deutlich erwünschten, gemeinsamen Scherzkultur bannt den tödlichen Ernst und schafft eine Atmosphäre, die Menschlichkeit mit allen Emotionen zulässt. Dadurch wird einsam angehäufter Ballast abgebaut, der sonst Kräfte bindet; es wird möglich, unwillkürlich über sich selbst zu schmunzeln, und – im Idealfall wird die Neugier und Experimentierfreude des sonst längst zur Raison gezwungenen früheren Kindes in uns hervorgelockt.
In diesem Bewusstsein konnte ich oft Schreck- und Frustrationsmomente entschärfen bei Patienten, welche zum Beispiel ihre verletzten Körperteile nach mehrwöhigem Gipsverband wieder zu Gesicht bekamen (in ihrer Vorstellung wähnten sie sich bereits als geheilt!) – und nun den Anblick als unerwartet kläglichen Enttäuschung erlebten. Die ursprüngliche Angst-Dramatik die dem Ereignis des erstmaligen „Auspackens“ anhaftete, konnte in eine bewusst gewählte Spieldramatik umgewandelt werden, wenn es in witziger Weise gelang, diese „Szene“ entweder als Vernissage (Enthüllung eines Kunstobjektes) oder als Befreiungsakt aus dem Kerker, oder als Geburtsminute zu feiern…!
Der humoristische Ansatz vermittelt Abstand, ermöglicht neue Blickwinkel und eine Haltung des „Trotzdem“ – die Kräfte freisetzt. Humor erlaubt ein gewisses augenzwinkernd heiteres sich Hinwegsetzen über die unmittelbar kränkenden und bedrückenden Einschränkungen einer Situation. Dies ist von grossem Wert bei der Entwicklung eines „langen Atems“ im Kampf um immer neue Stufen der äusseren und inneren Unabhängigkeit. Eine Berufskollegin, die in ihrer Arbeit an einer grossen Universitätsklinik ihren feinen Humor bewusst nutzt und fördert, schrieb mir zum Jahreswechsel: Humor ist wie die Federung beim Auto. Man könnte auch ohne fahren, aber wer möchte das schon!
Humor gedeiht leichter und spontaner auf vertrautem Nährboden.
In der Ergotherapie-Abteilung wo (im Kontrast zu den sonst eher diszipliniert geordneten und blitzsauberen übrigen Spitalbereichen) alltägliche Arbeitsgeräte herumliegen, und eine Vielzahl von Materialien, Werkzeugen und praktischen Hilfsmitteln das Bild prägen, kann auch mal der Eindruck einer „vertrauten Unordnung“ entstehen. Dies lässt auch Situationskomik aufkommen und bietet Gelegenheit zu humoristischen Neckereien und Persiflagen. Einer meiner Lieblingswitze, mit welchem ich mich selbst bewusst zur Karikatur anbiete, ist der folgende: 4 Berufsleute (ein Jurist, ein Chirurg, ein Ingenieur und eine Ergotherapeutin) treffen sich an einem Kongress und diskutieren, wer wohl hier den ältesten Berufsstand vertritt. Der Jurist brüstet sich: „Ich übe das älteste Metier aus, welches unschlagbar weit zurückdatiert: Als Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, war das ein juristischer Akt!“ – „Nichts da,“ entgegnet der Chirurg, „unsern Stand gibt’s noch länger, denn als Eva aus der Rippe von Adam geformt wurde, war dies ja offensichtlich ein chirurgischer Akt!“ – „Halt!“ wehrt sich der Ingenieur entschieden: „Die Teilung von Wasser und Land zu Anbeginn der Schöpfungsordnung war eine Ingenieur-Aufgabe..!“ Da meldet sich die Ergotherapeutin verschmitzt: „.. wo denkt ihr denn, dass das Chaos herkam..?!“
Viele Patienten, welche zunächst das Lachen verloren hatten, als Betroffene unserer für den Laien oft beängstigenden hochtechnisierten westlichen Spitzenmedizin, tauen in dieser humorvoll-kreativen Werkumgebung meist auf, sie fangen wieder an, Ideen zu entwickeln und Eigenverantwortung zu übernehmen.
Wiedererwachender Sinn für Humor ist in vielen Fällen ein Zeichen dafür, dass der Patient sich aus der reinen Opferrolle herausbewegt. Dies wiederum stärkt die Basis für eine partnerschaftliche, optimistische gemeinsame Lösungssuche bei der Bewältigung von Alltagsanforderungen. Das Leben „in den Griff zu kriegen“ ist – nicht nur für Handverletzte – ein sich wiederholender Prozess der Neu-Orchestrierung eines veränderten Instrumentariums. Wer dazu die Hilfen Anderer annehmen und humorvoll als willkommene Ergänzung nutzen kann, wird weiterkommen. Jedes Individuum hat seine besonderen Fähigkeiten und Schwächen. Diese mit heiterer Gelassenheit zu erkennen und im gegenseitigen Einvernehmen gemeinsam zu nutzen, bringt beidseitig echten Gewinn. Diese existentielle Erkenntnis scheint – wie die Überlebensenergie des Humors überhaupt – in vielen ganz unterschiedlichen Kulturen verankert zu sein. Ich selber habe diese Grundwahrheit oft und in vielfältiger Weise erlebt in meiner beruflichen Reisetätigkeit sowohl in „Hightech“-Nationen wie auch in Entwicklungsländern. Positiver Humor bildet – wie Musik, Tanz oder Spiel – eines der wenigen zwischenmenschlichen Pänomene, die über Sprach- und Kulturgenzen hinweg überall willkommenen sind, unmittelbare spontane kommunikative Verbindungen schaffen und wechselseitig immer wieder neu den Funken der vitalen Lebensfreude zünden.
Von Maria Schwarz, Ergotherapeutin